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Interview mit Prof. Dr. Ottmar Ette* * Das Interview hat am 20. Juni 2023 stattgefunden

Interview with Prof. Dr. Ottmar Ette

Ottmar Ette und Fragen um die Literaturen der Welt

Ottmar Ette wurde 1956 in Zell am Harmerbach im Schwarzwald in Süddeutschland geboren. Er war Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft und Romanistik an der Universität Potsdam. Als promovierter Romanist liegen seine Forschungsschwerpunkte bei den Reisetagebüchern Alexander von Humboldts, bei Themen wie Wissenschaft und Bewegung, Literatur und Bewegung, Trans-Area Studies und der philosophischen Theorie des WeltFraktales.

Zu seinen wichtigsten Werken gehören Literatur in Bewegung (2001ETTE, Ottmar. Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Göttingen: Verbrück Wissenschaft, 2001.), ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie (2004), Zwischen Welten Schreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz (Über Lebenswissen II) (2005ETTE, Ottmar. Zwischen Welten Schreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2005.), Alexander von Humboldt und die Globalisierung (2009), TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte (2012ETTE, Ottmar. TransArea. Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin; Boston: De Gruyter, 2012.), Roland Barthes: Landschaften der Theorie (2013), WeltFraktale: Wege durch die Literaturen der Welt (2017ETTE, Ottmar. WeltFraktale: Wege durch die Literaturen der Welt. Sttutgart: J.B. Metzler, 2017.) und El caso Jauss. Caminos de la comprensión hacia un futuro de la filología (2018).

Die von dem Theoretiker veröffentlichten Werke sind weltweit bekannt und haben viele Beiträge für Literaturwissenschaftler gebracht, die in der Philologie die Bewegung über geografische und disziplinäre Grenzen hinweg und im literarischen Schreiben eine Form des Überlebens sehen.

Revista Brasileira de Literatura Comparada (RBLC): Ihr Forschungsweg ist durch eine ständige Bewegung zwischen den Ländern innerhalb Europas und auch von Europa nach Westen und Osten gekennzeichnet. Wie würden Sie den Theoretiker Ottmar Ette in Bewegung zwischen diesen theoretischen Kontexten, zwischen den Philologien der Welt, immer mit dem Begriff der Literaturen der Welt im Hinterkopf, definieren

Ottmar Ette (OE): Die Philologie, die Liebe zur Literatur, ist heute notwendigerweise eine Tätigkeit, die ihren Gegenstand aus der Bewegung fokussieren, analysieren und interpretieren muss. So, wie wir heute ganz selbstverständlich - auch außerhalb von Phasen beschleunigter Globalisierung - in einer vernetzten Welt leben, so sind auch die Literaturen der Welt in höchstem Maße transareal vernetzt. Denn es ist keine Frage: Eine sprachliche und kulturelle Grenzziehungen überschreitende Intertextualität ist das schlagende Herz der Literaturen der Welt. Um diese Literaturen adäquat erfassen zu können, ist es unbedingt erforderlich, beständig den Blick auf diese Literaturen zu verändern und - wie Reisende in einer Landschaft - mobile Perspektiven einzunehmen, die es erlauben, diese Literaturen gleichsam von allen Seiten betrachten zu können. Auf diese Weise entsteht ein gleichsam kubistischer Entwurf der Literaturen der Welt: kubistisch und zugleich in Bewegung.

Ich habe in meinem Leben bislang das Glück gehabt, meinen Bewegungshorizont immer stärker auszuweiten, über die Jahrzehnte also einen immer größeren Teil der Literaturen der Welt kennenzulernen. Dabei bin ich mir stets der Tatsache bewusst, dass diese jahrzehntelange Arbeit und Lust am Text nur einen kleinen Teil der Literaturen der Welt abzudecken vermag. Ich habe - biographisch gesehen - mit der französischen, italienischen und spanischen Literatur in Europa begonnen, konnte dann in einem nächsten Schritt die Untersuchungshorizonte in die frankophone und hispanophone Welt ausweiten, konnte die spanisch-amerikanischen oder nordafrikanischen Räume in mein Verständnis der Literaturen der Welt einbeziehen und freue mich darüber, mit einiger Verspätung auch die lusophone Welt ebenso Amerikas wie Europas, aber auch etwa der Kapverden oder Asiens zunehmend in mein Denken zu integrieren.

Bei dieser sich transareal ausweitenden Bewegung gewinnt nicht zuletzt auch die eigene Herkunft immer neue Silhouetten, Formen und Figuren. Es ist kein Geheimnis, dass ich, von einigen hochinteressanten Ansätzen in der deutschen Germanistik einmal abgesehen, die sogenannte Auslandsgermanistik, also das außerhalb Deutschlands betriebene Studium der deutschsprachigen Literaturen für die für mich, der ich in Freiburg einmal deutsche Literatur studierte, für die spannendste Germanistik halte. Denn sie hat mich gelehrt, die Literaturen meiner Herkunftssprache auf neue Weise zu begreifen und zu verstehen. Dabei beklage ich immer, wie wenig diese sogenannte Auslandsgermanistik in Deutschland zur Kenntnis genommen wird.

Bei alledem bin ich mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass ein solches Leben als Philologe in Bewegung ein unschätzbares, vielleicht sogar unerhörtes Privileg ist. Jahrzehntelang konnte ich immer wieder die Perspektiven wechseln, mit Kolleginnen und Kollegen, mit Freundinnen und Freunden in immer anderen Weltteilen diskutieren und deren Sicht auf die Literaturen aufnehmen. Hinzu kam die Tatsache, dass ich stets größten Wert darauf legte, außereuropäische DoktorandInnen zu betreuen, um bei ihrer Arbeit vieles von ihnen lernen zu können. Ich habe meinerseits etwa hundert zumeist transareal ausgerichtete Tagungen und Sektionen veranstaltet, so dass ein dichtes internationales Netzwerk entstand. Schon seit einigen Jahren habe ich mich über meine ursprüngliche Disziplin hinaus, die Romanistik, auf dem Gebiet der Komparatistik, für die ich mich ein zweites Mal habilitierte, umgesehen und die Transarealität der Literaturen der Welt nicht nur, wie zunächst zu Beginn, im transatlantischen Wechselspiel, sondern auch im der transpazifischen Wechselwirkung zu untersuchen begonnen.

Ich glaube nicht, dass es irgendein anderes Medium außerhalb der Literatur gibt, das es wie die Literaturen der Welt erlaubt, Zugang nicht zu einer platten Realität, sondern zum gelebten Leben der Menschen auf diesem Planeten in der gesamten historischen Tiefe zu erhalten. Um aber - und das ist eine Aufgabe, die Erich Auerbach der Philologie übertrug und anvertraut hat - den „Ort des Menschen“ (Auerbach) oder besser die Orte der Menschen verstehen zu können, bedarf es beständiger Perspektivenwechsel. Dabei ist die Grundidee, dass ich an keinem einzelnen Ort auf diesem Planeten alles an einem Punkte versammeln und gegebenenfalls genießen kann. Ich kann nicht in der Schönheit der Tropen leben und das bezaubernde Schauspiel der Zyklen der vier Jahreszeiten erleben, um nur ein Beispiel zu nennen. Deshalb findet sich in den Literaturen der Welt immer das Bestreben, immer das Begehren, die gesamte Welt wenn nötig auf wenigen Seiten zu bilden und zu entfalten, um nicht nur den Planeten in seiner naturräumlichen Dimension, sondern die von den unterschiedlichsten Formen des Lebens bewohnte Erde, mithin die auch den Menschen einschließende Welt, in ihren gesamten Lebenskontexten darzustellen.

Ich bin daher zutiefst davon überzeugt, dass die Aufgabe der Philologin, dass die Aufgabe des Philologen in der Liebe zur Literatur und damit der Erforschung des Lebens der Menschen im Zusammenleben mit anderen Menschen, mit den Tieren, mit den Pflanzen, mit den Steinen, mit den Göttern besteht. In einem Verständnis der Konvivenz in einem ebenso transkulturellen wie ökologischen Sinne, wie ich es im letzten Band des „Aula“-Zyklus darzustellen versucht habe. Dass die Philologie folglich nur dann ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie möglichst viele Sichtweisen dieser Konvivenz, dieses Zusammenlebens entfaltet, so wie dies bereits im mesopotamischen Gilgamesch-Epos oder im altchinesischen Shijing zum Ausdruck kam. Wir können viel von diesen frühen Texten lernen.

„Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen“, da hatte Goethe Recht, aber es darf auch keine an irgendeinem Zentrum ausgerichtete Weltliteratur an die Stelle des Nationalen treten. Die Literaturen der Welt haben quer durch die Jahrtausende, quer durch die Sprachen, die zum Teil längst vergessen sind, quer durch die Kulturen und quer durch die verschiedenen Areas ein Lebenswissen entfaltet, das zu deuten die Aufgabe der Philologin und des Philologen ist. Dazu müssen sie Philologinnen und Philologen in Bewegung sein, ja vielleicht sogar sich als Philologen ohne festen Wohnsitz verstehen, um in beständiger Ausrichtung an den Literaturen der Welt die sich in den Literaturen darstellende viellogische Relationalität, die Polylogie und Polyphonie dieser unserer Welt, erschließen zu können.

RBLC: Einerseits sind Sie ein Verfechter der Idee der Literaturen der Welt. Andererseits stehen Sie einigen Ausarbeitungen dieser Idee kritisch gegenüber, weil sie zu sehr auf die eine oder andere Metropole fokussiert sind. Halten Sie es für möglich, ein konzeptionelles Modell der Literaturen der Welt ohne ein Zentrum zu entwickeln? Was wäre das Gegenmittel gegen die Versuchung der Zentralisierung?

OE: Ja, selbstverständlich ist es möglich, ein System der Literaturen der Welt zu entwickeln, das ohne ein Zentrum auskommt. An die Stelle der Zentralität träte die Relationalität, an die Stelle des Statischen träte das Mobile und Bewegliche, an die Stelle einer einzigen Logik träte das Viellogische, das Polylogische. Die Einführung und Ausarbeitung des Konzepts der Weltliteratur durch Goethe war ein mutiger, sich polemisch gegen die Nationalliteratur auflehnender Schritt, welcher die République des Lettres nicht dem Nationalen (und Nationalistischen) aufopfern wollte. Zugleich aber dachte das neue Konzept der Weltliteratur die „anderen“ Literaturen bei Goethe so um ein Zentrum angeordnet, wie sein Freund Friedrich Schiller die außereuropäischen Völker um die Völker Europas herum gelagert dachte (wie er es in seiner Jenaer Antrittsvorlesung formulierte). Man kann dieses zentralistische und zentralisierende Erbe des Weltliteratur-Konzepts noch bei den späten Erben Goethes bewundern, etwa im pariszentrischen Entwurf von Pascale Casanova oder dem newyorkzentrischen Modell David Damroschs. Tatsächlich aber befinden wir uns längst in einer Zeit nach der Epoche der Weltliteratur - und wir sollten niemals vergessen, dass Wolfgang von Goethe selbst von einem bestimmten Beginn und damit auch von einem bestimmten Ende einer Epoche sprach. Und diese Epoche der Weltliteratur ist heute vorbei.

Ich bestreite keineswegs, dass sich auf ökonomischer und kommerzieller Ebene, also mehr auf der Ebene der Distribution der Literaturen der Welt, noch für lange Zeit ein zentriertes System der Weltliteratur erhalten wird. Dabei geht es im Kern um Marktmechanismen, um Literatur als Ware. Dieses sich fortschreibende System der Weltliteratur, die sich in New York, London, Paris, Barcelona oder der Buchmesse von Frankfurt am Main zentriert, erzeugt bisweilen die optische Spiegelung, auf der Ebene des Schreibens gäbe es ein stabiles und statisches System einer zentrierten Weltliteratur noch. Tatsächlich aber haben sich die Literaturen der Welt längst weiterentwickelt und sich relationale Logiken erschlossen, die durch kein weltliterarisches Zentralitätsdenken mehr zu begreifen sind. Es geht dabei um archipelische und transarchipelische Strukturen.

Die Philologie hinkt hinter den Literaturen der Welt her. Aber keine Angst, das ist ganz normal. Ich halte es mit dem Leitsatz von Roland Barthes: La littérature est toujours en avance sur tout. Das gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Philologien. Diese tun deshalb gut daran, wenn sie sich an den Literaturen der Welt orientieren und die mobilen Intertextualitäten in ihrer Relationalität und Viellogik in ihre eigenen Modelle schöpferisch integrieren.

Es ist ohne Zweifel so, dass sich die Literaturtheorie schwer tut, statische Konzepte und Systeme aufzugeben und eine Poetik der Bewegung zu entwickeln. Ich bin gleichwohl zuversichtlich, dass dies über kurz oder lang geschehen wird. Denn die Literaturen der Welt führen ohne jeden Zweifel vor Augen, wie ein derartiges offenes und nicht zentriertes System funktionieren kann und produktiv wird. Dies schließt auch und gerade diskontinuierliche Inselstrukturen und ein Verständnis archipelischer Relationalität mit ein.

Gegen die Versuchung der Zentralität wirkt als das beste Gegenmittel die Bewegung von vielen Orten her, von vielen Seiten aus, wobei der Gedanke tragend sein sollte, dass von keinem Blickpunkt, von keiner Perspektive aus ein Gegenstand in seiner Totalität oder in seiner Eigentlichkeit erfasst werden kann. Die verschiedenen Blickrichtungen müssen miteinander kombiniert werden, um ein Bewegungsbild zu erhalten, das keiner Zentralperspektive gehorcht. Wir wissen alle, dass die Erfindung der Zentralperspektive, die sich im Zusammenspiel zwischen der arabischen und der europäischen Welt herauskristallisierte, das machtvollste Werkzeug war, um die Welt von Europa aus zu kontrollieren, zu kolonialisieren und am Zentrum Europa auszurichten. Von entscheidender Bedeutung für diese Macht der Zentralperspektive war der mit ihr einhergehende Glaube - und dieser Glaube besteht oftmals noch heute - dass es sich gleichsam um eine „natürliche“ Perspektive handele. Doch wie stets ist Natur natürlich nicht natürlich. Ein kurzer Blick in die Geschichte der Zentralperspektive zeigt nämlich sehr deutlich, in welchem Maße sie das Ergebnis einer ganz bewussten Konstruktion war und ist. Wenn wir diese Tatsache in Erinnerung behalten und wissen, dass Kartenbilder nicht die Welt abbilden, sondern Konstruktionen sind, die bestimmten Interessen dienen, dann ist schon viel gewonnen.

Ich glaube, dass man in Brasilien, dass man in Lateinamerika die kolonialen Implikationen dieser Geschichte weitaus besser begreifen kann als in Europa oder auch in den USA, wo Vorstellungen von einer „Natürlichkeit“ der Zentralperspektive und einer „natürlichen“ Asymmetrie und Hierarchie noch weit verbreitet sind. Man kann dabei schon ungeduldig werden. Wann fangen wir an, die Aufklärung als ein transareales Phänomen zu begreifen? Wann verstehen wir endlich, dass die Romantik zwischen zwei Welten entstand? Wann akzeptieren wir, dass die historischen Avantgarden ein weltumspannendes Phänomen darstellen? Dass heute Aufklärung im akademischen Herzen von Berlin als rein europäisches Phänomen gedacht werden kann, mag einen schmerzen, der über Anton Wilhelm Amo und damit einen schwarzen Philosophen der Frühaufklärung in Deutschland gearbeitet hat, belegt aber nur die These, dass viele in Europa noch unreflektiert Kinder der Zentralperspekive sind.

RBLC: Sie haben eine Annäherung zwischen den Kulturen Lateinamerikas, Ostasiens und des Pazifiks vorgeschlagen. Was wären einige Aspekte dieser konzeptionellen Konstruktion?

OE: Die Beziehungen zwischen China, Japan, den Philippinen und dem, was wir heute als Lateinamerika bezeichnen, sind Jahrhunderte alt. Die Expansion Europas am Ausgang des 15. Jahrhunderts richtete sich gleichzeitig nach den Amerikas und nach Asien. Wir besitzen bereits vielfältige Zeugnisse von kulturellen und literarischen Bezügen zwischen Asien, Europa und Amerika seit dem 16. Jahrhundert. Ramusios Sammlung trennte nicht wie wir heute die Beziehungen Europas in die beiden Indien (les deux Indes, las dos Indias) voneinander ab: Es war eine zusammenhängende Bewegung, die noch nicht in unterschiedliche Disziplinen aufgeteilt war, sondern ganz selbstverständlich von einem zusammenhängenden Prozess ausging, welcher auch Afrika - etwa mit dem Bericht des Giovan Leone l’Africano - miteinschloss. Die etwa in Macau im heutigen China gefertigte Produktion von kunstvollen und sündhaft teuren asiatischen Paravents ebenso für den europäischen wie für den amerikanischen Markt legt ein gutes Zeugnis von diesen frühen weltwirtschaftlichen Beziehungen ab. Denn es ist faszinierend zu sehen, wie sich die ursprünglich aus Japan vertriebene Namban-Kunst in den Amerikas mit europäischen, kreolischen und indigenen Maltraditionen verband und insbesondere in Mexiko oder Peru zu sehr eigenständigen künstlerischen Traditionen fortentwickelte.

Der transpazifische Raum ist daher ein kulturell überaus bedeutungsvoller Beziehungsraum für Lateinamerika, der bisweilen von großen lateinamerikanischen Intellektuellen wie José Martí im 19. Jahrhundert oder José Carlos Mariátegui im 20. Jahrhundert geringgeschätzt wurde. Tatsächlich aber finden wir bei näherer Betrachtung auch und gerade im 20. und 21. Jahrhundert eine Vielzahl literarischer Wechselbeziehungen zwischen Chile und China, zwischen Kuba und Kanton, zwischen Taiwan und Peru, zwischen Korea und vor allem den Westküsten des amerikanischen Kontinents. Dies sind asiamerikanische Literaturbeziehungen, die bislang kaum einmal beleuchtet wurden. Es ergibt sich auf diesem Gebiet eine ungeheure Fülle an Beziehungen zwischen Portugiesisch und Japanisch, zwischen Taiwanesisch und Chilenisch, zwischen dem Kubanischen und dem Kantonesischen, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.

Beispielhaft für die Komplexität dieser Beziehungen ist etwa das literarische Werk von Anna Kazumi Stahl, deren spanischsprachiges Schreiben - sie hat sehr spät Spanisch in Argentinien gelernt - man sehr wohl als ein Schreiben ohne festen Wohnsitz umschreiben kann. Als Kind einer japanischen Mutter und eines deutschen Vaters wuchs sie in den USA auf und verbindet in ihrem Schreiben in spanischer Sprache die japanischen Beziehungen mit US-amerikanischen, mit europäischen (auch deutschen) und vor allem mit lateinamerikanischen Traditionen, wobei die ständigen Perspektivenwechsel in ihrem Schreibduktus auffallen. Wir haben über lange Zeit diese transpazifischen Relationen vernachlässigt und uns allein auf die transatlantischen Wechselbezüge konzentriert. Dies war kein Fehler, sondern eine Konsequenz der Ausrichtung an Europa; aber dies bedarf einer dringenden Korrektur.

Doch schon heute gibt es immer mehr Forschungen zum transpazifischen Raum und beispielsweise zu der Tatsache, dass es nicht nur eine chinesische Nationalliteratur gibt, sondern auch in chinesischer Sprache oder sich anderer Idiome Chinas bedienender Literaturen ohne festen Wohnsitz, ganz so, wie es etwa spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts kubanische Literaturen jenseits der Karibikinsel gibt. Es ist keineswegs schwierig zu prophezeien, dass sich die Erforschung dieser Literaturen in den nächsten Jahrzehnten erheblich intensivieren wird und keineswegs auf Logiken bestimmter nationalliterarischer Zentren beziehungsweise bestimmter Literaturmarktzentren reduziert werden kann.

Die Logiken der Literaturbeziehungen im transpazifischen Raum sind gegenüber dem transatlantischen nicht einfach andere, sondern vielmehr weitere. Es gibt keine Eigentlichkeit einer Logik, von der diese Literaturen etwa abwichen oder gegenüber denen diese Literaturen eine Alterität darstellten. Vielmehr geht es darum, sie als Literaturen zu begreifen, die weiteren Logiken gehorchen und daher den Reichtum dieser transpazifischen Relationen, von dem ich gerade sprach, ausmachen und charakterisieren.

RBLC: Ihre Produktion durchläuft verschiedene Regionen der Welt, von Nordafrika über Asien und Südamerika bis hin zu den europäischen Regionen. In welchem Sinne und auf welche Weise ist die Kenntnis der Geographie notwendigerweise ein konstituierendes Element für die Bildung von Menschen, die eine größere Wahrnehmung der Welt haben, für Menschen, die die Welt als eine Einheit betrachten, die aus verschiedenen Teilen besteht, die sich gegenseitig ergänzen?

OE: Die Konzentration auf bestimmte Areas oder Weltregionen ist zweifellos sinnvoll: Die Gründungen interdisziplinärer Südostasienzentren, von gut vernetzten Lateinamerikainstituten, selbst von Großbritannienzentren war sicherlich wissenschaftlich sinnvoll. Aber in der Regel wird eine bestimmte Area, auf welcher der Fokus liegt, dann aus ihren komplexen Verbindungen und Relationen herausgeschnitten und damit aus einem lebendigen Zusammenspiel, das eine Area aber erst ausmacht. Ich habe daher schon früh für TransArea-Studien optiert, die es erlauben, eine gewisse Spezialisierung mit einem Studium der Relationalitäten zu verbinden sowie eine mobile Perspektive einzunehmen. Dies ist in Zeiten, in welchen weltweite Migrationen und Transmigrationen immer dringlichere Probleme in einer hochgradig vernetzten Welt aufwerfen, mehr als überfällig.

Ich würde daher die Geographien vor allem als unterschiedlich strukturierte Bewegungsräume auffassen, die es uns erlauben, unser Augenmerk nicht auf einen gegebenen statischen Raum, sondern auf eine mobile Disposition zu richten. Anders formuliert: Ein Raum entsteht vor allem durch die Vielfalt an Bewegungen, die diesen Raum queren und dadurch konstituieren. So, wie ich einen Vorlesungsraum erst richtig verstehe, wenn ich einen architektonisch gegebenen statischen Raum mit den Bewegungen von Studierenden und Dozierenden „fülle“ und aus diesen unabschließbaren Bewegungen das Sein eines Vorlesungsraumes begreife, so muss ich einen gegebenen geographischen Raum durch all jene Bewegungen verstehen, die ihn unentwegt queren und beständig transformieren.

Wenn wir die Literaturen der Welt anschauen, so begreifen wir schnell, dass sie von allen Anfängen an - und wir können hier ebenso das mesopotamische Gilgamesch-Epos, das altchinesische Shijing oder die Erzählungen von Tausendundeiner Nacht heranziehen - durch ihre Bewegungen, durch ihre unaufhörlichen Transformationen gekennzeichnet sind. Eines ist klar: Die Literaturen sind von Beginn an in Bewegung. Selbst die Reiseberichte eines Marco Polo oder eines Ibn Battuta zeigen auf eindrückliche Weise, wie sehr eine gegebene geographische Struktur als Wissensspeicher dient und in welch grundlegender Weise dieser Wissenspeicher nur lebendig bleiben kann, wenn er in Bewegung versetzt wird.

Die Literaturen der Welt greifen sehr häufig auf das Modellhafte zurück, genauer: auf die Selbstähnlichkeit des Fraktalen, in welchem sich Raum und Bewegung wechselseitig bilden. Ein João Guimarães Rosa hat in seinen Erzähltexten immer wieder bestimmte Landschaften Brasiliens, mit denen er höchst vertraut war, als ein Fraktal der gesamten Welt konstruiert, was diesen narrativen Texten ihre Bewegungsvielfalt, vor allem aber ihre literarische Vieldeutigkeit und Großartigkeit vermittelt. Es sind diese Landschaften der Theorie - und bei den Namen William Faulkner, Gabriel García Márquez oder Günter Grass werden Sie unmittelbar einen Bewegungsraum assoziieren, den ich als Landschaft der Theorie bezeichne -, welche als miniaturisierte literarische Modelle die Fähigkeit besitzen, eine ganze Welt aus einer einzigen Area oder Region entstehen zu lassen. Dass diese fraktalen Welten wie schon die Erzählwelten der Homerischen Epen etwas Inselhaftes besitzen, wird sich schwerlich leugnen lassen.

Die Einheit der Welt entsteht aus der Modellhaftigkeit, der Miniaturisierung und der Lebendigkeit des literarischen Fraktals, das sich in den Literaturen der Welt vor unseren Augen in eine eigene Welt mit ihrer eigenen Logik entwickelt. Die Einheit der Welt entsteht nicht aus ihrer Homogenität, sondern aus ihrer von Bruchlinien durchzogenen Archipel-Struktur, die nicht auf Kontinuitäten, sondern auf Diskontinuitäten, nicht auf die Dominanz einer einzigen Logik, sondern auf die Kopräsenz verschiedenartigster Logiken innerhalb eines polylogischen Systems setzt. Keine homogene Einheit, sondern komplementäre Vielfalt. Der Begriff der Literaturen der Welt versucht, diese Vielgestaltigkeit und Polyphonie mit der Einheit einer einzigen Welt in ein fruchtbares Verhältnis zu setzen.

RBLC: Und könnten Sie hier kurz die Begriffe Weltinsel und Inselwelt kommentieren, denn sie spielen eine wichtige Rolle in Ihrem Werk in Verbindung mit dem Begriff des Archipels.

OE: Ich gehe zunächst von einer grundlegenden Unterscheidung aus: der zwischen Insel-Welt und Inselwelt. Jede Insel ist eine Welt für sich mit ihrem eigenen Klima, ihrer eigenen Vegetation, ihrer eigenen Tierwelt, ihren eigenen Sprachen, ihrer eigenen Kultur, kurz: ihren jeweils eigenen Charakteristika, die sie von allen anderen Inseln unterscheiden. Eine Insel-Welt ist daher durch ihre relative Abgeschlossenheit gekennzeichnet, auf der die Differenzqualität jeder einzelnen Insel gegenüber allen anderen beruht.

Eine Inselwelt hingegen meint eine Welt von Inseln, die in ihrer Verschiedenartigkeit jeweils miteinander relationiert sind, sich also durch ihre vielgestaltigen Relationen auszeichnet und nicht durch ihre Kontinuität. Wie die Insel-Welt ist auch die Inselwelt durch Diskontinuitäten gekennzeichnet, welche die Grundlage für die jeweils mobile Relationalität erschaffen. Alle Inseln und Inselchen sind Teile eines Archipels, stehen also miteinander in einer mehr oder minder intensiven und engen Beziehung innerhalb des Archipels, aber auch zwischen unterschiedlichen Archipelen, welche transarchipelisch miteinander verbunden sind. Die Einheit beruht folglich nicht auf einer wie auch immer gearteten Kontinuität und Homogenität, sondern auf einer fundamentalen Diskontinuität, welche sich vermittels ihrer Relationalität auszeichnet. Selbstverständlich hängen Insel-Welt und Inselwelt aufs Engste miteinander zusammen, verhalten sich zueinander komplementär und können als eine Kippfigur betrachtet werden.

Dies bedeutet selbstverständlich, dass sich eine Inselwelt durch ihre polylogische, viellogische Struktur definiert. Keine alles beherrschende Logik drückt sich einem Archipel auf, sondern alle jeweiligen Inseln tragen durch ihre Differenzqualität zur Gesamtheit bei, so wie die einzelnen Inseln von Venedig jeweils ihre eigene Form, ihre eigene Geschichte, ihre eigene soziale Schichtung, ihre eigene Funktion besitzen, die sie jeweils innerhalb ihrer fundamentalen Relationalität erfüllen. Jede einzelne Insel bildet ihre eigene Insel-Welt; und alle zusammen bilden sie eine archipelische Inselwelt, die sich durch ihre Vielgestaltigkeit auszeichnet. Ich kann bei einer bestimmten Insel einmal auf ihre Disposition als Insel-Welt akkomodieren, ein andermal aber auf sie als Teil einer Inselwelt schauen. Auch dies wäre ganz gewiss ein höchst ratsamer Blick- oder Perspektivenwechsel.

Gerne greife ich den Begriff der Weltinsel auf, indem sich diese Weltinsel allein durch die unterschiedlichsten Diskontinuitäten und Binnendifferenzierungen verstehen lässt. Die Weltinsel - und es gab eine lange Tradition in der Kartographie, welche diese Weltinsel in Form eines Isolario umschrieb - basiert auf der Wechselwirkung zwischen Insel-Welt und Inselwelt, ja ist ohne eine dergestalt bewegliche Relationalität nicht zu denken. Ein solches hochmobiles, sich ständig umbildendes und transformierendes System benötigt kein Zentrum, ein solches Modell kommt ohne jede zentrale Zuschreibung aus. Denn alle Teile sind im Verhältnis zu allen anderen in ständiger Bewegung.

Innerhalb der Landschaften eines João Guimarães Rosa, eines William Faulkner oder Gabriel García Márquez bilden sich Insel-Welten heraus, die auf einer nächsthöheren Ebene als Inselwelten verstanden werden können, welche archipelisch und transarchipelisch in ständiger beweglicher Relation und Wechselwirkung stehen. Die Weltinsel der Literaturen der Welt gliedert sich in nicht-globalisierte und in globalisierte Literatursprachen, zu denen die Lusophonie, die Hispanophonie, die Anglophonie oder die Frankophonie zählen, welche gleichsam Archipele bilden, die wiederum aus einzelnen Insel-Welten in den Amerikas, in Afrika, in Asien oder Europa bestehen und mit anderen Archipelen transarchipelisch im Austausch stehen. Zum Verständnis dieses Literaturmodells braucht man, wie gesagt, kein Zentrum. Das Zentrum ist noch nicht einmal leer. Im Griechischen meint der Ausdruck Archipel das Wasser zwischen den Inseln, die Diskontinuitäten zwischen dem vermeintlich Festen. Der Ausdruck „Archipel“ verweist somit auf das mobile Element, das die Bewegungen zwischen den Insel-Welten erst schafft.

References

  • ETTE, Ottmar. Literatur in Bewegung Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Göttingen: Verbrück Wissenschaft, 2001.
  • ETTE, Ottmar. Zwischen Welten Schreiben Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2005.
  • ETTE, Ottmar. TransArea Eine literarische Globalisierungsgeschichte. Berlin; Boston: De Gruyter, 2012.
  • ETTE, Ottmar. Pensar o futuro: a poética do movimento nos Estudos de Transárea. Alea: estudos neolatinos v. 18, n. 2, p. 192-209, 2016. https://doi.org/10.1590/1517-106X/182-192
    » https://doi.org/10.1590/1517-106X/182-192
  • ETTE, Ottmar. WeltFraktale: Wege durch die Literaturen der Welt. Sttutgart: J.B. Metzler, 2017.
  • ETTE, Ottmar. Fractais do mundo: Caminhos pelas Literaturas do Mundo. Tradução de Gerson Roberto Neumann e Marianna Ilgenfritz Daudt. Porto Alegre: Class, 2022/2023. [2 Bände].
  • *
    Das Interview hat am 20. Juni 2023 stattgefunden

Edited by

Editor-chefe:

Rachel Esteves Lima

Editor executivo:

Anderson Bastos Martins
Victor Coutinho Lage

Publication Dates

  • Publication in this collection
    01 Dec 2023
  • Date of issue
    May-Aug 2023

History

  • Received
    17 June 2023
  • Accepted
    28 Aug 2023
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