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Deutsche Theoriebeiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft in Brasilien (I)

GELEITWORT

Deutsche Theoriebeiträge zur Literatur- und Sprachwissenschaft in Brasilien (I)

Diese Ausgabe der Zeitschrift Pandaemonium Germanicum möchte eine Debatte über mögliche Theoriebeiträge deutschsprachiger Autoren zur brasilianischen Literatur­- und Sprachwissenschaft anstoβen, denn in der hiesigen Forschung ist dieser Frage bisher wenig Interesse gewidmet worden. Es gibt Studien zu Wissenschaftlern, die – wie Anatol Rosenfeld und Otto Maria Carpeaux – ins Land einwanderten.1 1 Zu Rosenfeld siehe Castro 2007; Martins Filho 1995; zu Carpeaux: Koshiyama 1992; Waizbort 1992; Ventura 2000; Oliveira 2001. Es handelt sich um Autoren die zur Ausbildung – oder zumindestens zum Lesekanon – von Gene­ra­tionen von brasilianischen Literatur­wissen­schaftlern gehörten, deren Bücher zu den Referenzwerken vieler Studiengänge zählen und die weiterhin von rennomierten Verlagen herausge­geben werden.2 2 Ausgaben von Carpeaux und Rosenfeld wurden z. B. in den Jahren 2005 (Carpeaux), 2006 und 2007 veröffentlicht. Aber es gibt praktisch keine systematische Debatte über den Beitrag von vielen anderen Philosophen, Soziologen und Philologen zur Lite­ra­tur­­wissen­schaft in Brasilien, obwohl Belege für diesen Beitrag schon bei einem kurzen Blick auf die Inhalte und Literaturlisten diverser Seminare auffallen, die etwa an der Fakultät für Philosophie, Literatur- und Geisteswissenschaften der Univer­sität São Paulo angeboten werden.

Eine solche flüchtige Recherche zeigt die Präsenz von Begriffen und Themen, die vorrangig im deutschsprachigen Bereich entstanden sind oder entwickelt wurden (wie etwa die Phänomenologie, Hermeneutik, Rezeptionsästhetik, Psychoanalyse); zahl­reiche Seminarankündigungen nennen "klassische" Theoretiker wie Walter Benja­min, Erich Auerbach, Arnold Hauser, Theodor W. Adorno, Wolfgang Iser, Peter Szondi; andere enthalten die Namen von brasilianischen Autoren, die einen intensiven Dialog mit Deutschland unterhalten wie Luiz Costa Lima, der sein Werk im Wechsel zwischen Rio de Janeiro, Deutsch­land und den Vereinigten Staaten entwickelt hat. Und es liegt nahe anzunehmen, dass solche Referenzen sich ebenfalls in den literaturwissen­schaft­lichen Seminaren der anderen Universitäten finden. Möglicherweise aufgrund der von Carpeaux und Rosenfeld eingeleiteten Tradition findet sich die Mehrzahl der Nennun­gen in den Literaturfächern, was als Tendenz auch in den hier vorgestellten Artikeln deutlich wird.

Natürlich müsste man nachforschen wie solche Beiträge in der brasilianischen Tradition rezipiert wurden: Wurden die Hauptideen dieser Autoren einfach übernom­men? Wurden sie grundlegend diskutiert oder lediglich als historische Information erwähnt? Bilden sie eine Grundlage brasilianischer Theorien? Üben sie einen tatsäch­lichen Einfluss auf die gegenwärtige Forschung aus? Was die Immigranten angeht: Welche konkreten Ansätze und Interpretationen haben sie mitgebracht und an ihre Leser und Schüler weitervermittelt; auf welche Weise übten sie ihre Wirksamkeit aus? Was die Brasilianer angeht: Lasen sie lediglich einige deutschsprachige Autoren neben vielen anderen; lasen sie vor allem deutsche Sekundärliteratur; vertreten sie theoretische Strömungen deutschen Ursprungs, die später anderswo weiterentwickelt wurden (in Frankreich, den USA); waren sie während ihrer Ausbildung in Deutschland? Es wäre auch möglich, der gegenwärtigen Präsenz von Gastprofessoren in Brasilien nachzu­gehen, die aktuell von der Internationalisierung der Universitäten besonders begünstigt wird: Wie lange bleiben sie im Land; auf welche Weise werden ihre Kurse und Vorträge rezipiert; tragen sie bei zur Ausbildung der Studenten und zur Vertiefung von Kon­takten für internationale Austauschprojekte?

Tatsache ist, dass die Anwesenheit deutschsprachiger Theorie bei der Konstitu­tion und Entwicklung der brasilianischen Literaturwissenschaft weit über den spezifi­schen Bereich der brasilianischen Germanistik hinausgreift. Daher war es an der Zeit, dass Pandaemonium Germanicum die Debatte aufnimmt, zu der nun in dieser und der kommenden Ausgabe der Zeitschrift unter dem Titel Deutsche Theoriebeiträge zur brasilianischen Literatur- und Sprachwissenschaft zahlreiche Artikel publiziert werden. Ziel ist sowohl, die hier wenig oder noch gar nicht bekannten Diskussionen aufzu­greifen, als auch, den Lesern Studien zu konkreten Beispielen von deutscher Theorie­präsenz in Brasilien vorzustellen. In der gegenwärtigen Ausgabe finden sich daher eine Analyse zum Werk Niklas Luhmans von Kathrin Maurer, Artikel von deutschen Profes­soren, die sich gerade in Brasilien aufgehalten haben wie Oliver Lubrich und Rolf Renner und die einen aktuellen Blick auf deutsche Geschichte, Kultur und Literatur vermittelten.

Andere Artikel wie die von Mario Miguel González, Marcos Fabio Campos da Rocha, Daniel Bonomo, Paulo Henrique S. Gregório und Alexandre V. Flory zeichnen die Beziehungen nach, die sich zwischen deutscher Philosophie bzw. weiteren Theorie­formationen und diversen literarischen Bereichen, vor allem dem brasilia­nischen, finden lassen. In einem sprachwissenschaftlichen Beitrag schlieβlich stellen Mônica Savedra, Heloísa Liberto und Robson Carapeto-Conceição eine Untersuchung zu Fragen der Inter­kulturalität im Fremdsprachen­unterricht vor.

Der Artikel Communication and Language in Niklas Luhmann's Systems Theory von Kathrin Maurer, der diese Ausgabe eröffnet, diskutiert auf originelle und scharf­sinnig Weise das Werk des Soziologen Niklas Luhmann. In Brasilien ist der Autor stär­ker im Bereich der Gesellschaftswissenschaften bekannt; in Europa ist die sogenannte Systemtheorie auch verschiedentlich für den Bereich der Literaturwissen­schaft nutzbar gemacht worden. Weder in der Soziologie noch in der Literatur ist jedoch der Autorin zufolge die angemessene Aufmerksamkeit auf die Sprachkonzeption gerichtet worden, die in Luhmanns Schriften zur Kommunikation implizit enthalten ist. Daher versucht Maurer in ihrem Artikel, Luhmanns Sprachbegriff zu problematisieren, um seine Gül­tig­keit zu überprüfen und die Konsequenzen der von Luhman vorgenom­menen Tren­­nung zwischen Sprache und Bewusstsein zu erörtern. Dazu erläutert sie Luhmans Kommunikationsmodell und dessen Beziehung zum Bewusstsein, sowie die struktu­rel­len Beziehungen zwischen Medium und Form. Darüber hinaus erhellt sie die Probleme, die sich schon aus der Sicht der Systemtheorie selbst stellen.

In seinem Artikel 1989 und die Folgen. Deutsche Gegenwartsgeschichte im Nachwende-Film beobachtet Rolf G. Renner die Veränderungen im politischen Diskurs über die deutsche Geschichte seit dem Fall der Mauer anhand einer Analyse einiger Filme von Schlöndorff, Eichinger und Edel. Renner zufolge werden die historischen Ein­­schnitte von 1945 und 1968 in den Filmen nach 1989 neu bewertet und trotz aller Unterschiede zwischen den drei Regisseuren lässt sich die Tendenz beobachten, ideologische Schematisierungen zu vermeiden und die individuelle Situation der Haupt­figuren in den Vordergrund zu stellen. So schaffen die verschiedenen filmischen Strate­gien Werke von unideologischem Charakter, in denen versucht wird, die Komplexität der Ereig­nis­se herauszustellen und den Figuren einen historischen, jedoch nicht heroi­schen Zuschnitt zu geben. Der Autor schlieβt mit der Beobachtung, dass filmische Strategien, die gegen die Ideologisierung des Diskurses angehen, nicht nur Folge der politischen Veränderung, sondern auch ein "Effekt gegenwärtiger medialer Präsentation von Wirklichkeit" seien. Die hier von Renner angestellte Analyse von Filmen kann zugleich brasilianischen Studenten als Anreiz dienen, sich mit der jüngsten Vergan­gen­heit Deutschlands auseinander­zusetzen.

Die deutsche Geschichte und ihre Beziehungen zur Literatur erscheinen auch im Text Sprachbilder des Krieges. Zur ersten Fassung von Ernst Jüngers "In Stahlge­wittern" von Oliver Lubrich, der den umstritte­nen, 1920 erstmals veröffentlichten Roman von Ernst Jünger untersucht. Die dem Roman zugrunde liegenden Kriegstage­bücher wurden übrigens 2010 publiziert und haben wiederum eine bemerkenswerte Dis­kussion um den Autor entfacht. Lubrich nimmt eine struktuelle und semantische Analyse der Sprachfiguren Jüngers vor, um zu verstehen, wie der 1. Weltkrieg insze­niert wird und welche Bedeutungen ihm mithilfe der Bilder zugeschrieben wird. Lubrich zufolge "codiert [Jünger] den Krieg, erstens als Ereignis der Natur, zweitens als ökonomische Praxis, drittens als Phänomen der Kultur und viertens als Anthropo­morphismus". Die detaillierte Analyse von 32 Bildbereichen zeigt, dass der Text weder auf eine bloβe Ästhetisierung des Krieges, noch auf eine simple Verherrlichung faschi­stischer Couleur reduziert werden kann, wenngleich der proto- oder potentiell faschi­stische Charakter seiner Texte sich nicht leugnen lässt. Aufgrund der Ambivalenzen, Nuancen und Widersprüche muss die von Jünger entfaltete metapho­rische Inszenierung des Krieges als Dokument angesehen werden, in dem sowohl die zweideutige Faszina­tion für den Konflikt als auch ein tiefes Unbehagen und eine Des­orientierung angesichts der furchtbaren Ereignisse zum Ausdruck kommt. Lubrichs Artikel kann indirekt als Beleg dafür dienen, dass die sorgfältige Beobachtung der rhetorischen Strukturen eines Textes die Vorstellungen in Frage stellen kann, die sich in der Sekundärliteratur verfestigt haben und so zu einer ernsthaften Vertiefung der Debatte führt.

Um eine Verbindung von formaler Analyse und Reflexion über die Geschichte geht es Alexandre V. Flory in seinem Text über Die österreichische Literatur als Frage an die deutsche Literaturgeschichtsschreibung: die formale Provokation in Heldenplatz von Thomas Bernhard. Flory teilt die Kritik von Schmidt-Dengler und Zeyringer am "Anschluβ" der österreichischen Literatur an die deutsche Literaturgeschichte und fasst seine Position so zusammen, dass zwar einerseits die Kategorien der deutschen Litera­tur­geschichte der österreichischen Literatur nicht völlig gerecht werden, dass es aber andererseits auch nicht sinnvoll wäre, diese isoliert von der deutschen zu betrachten. Das Hauptstück seiner Argumentation, Heldenplatz von Thomas Bernhard, wird von Flory im Gefolge Adornos als "bewusstlose Geschichtsschreibung" und als Zäsur in der Politisierung der Ästhetik in Österreich interpretiert.

Das Werk Arnold Hausers wird in den Artikeln Gedächtnis, Passagen und Perma­nenz der Tragödie in der deutschen Literatur von Marcos Fabio Campos da Rocha sowie Arnold Hauser und die spanische Literatur von Mario Miguel González behandelt. Ausgehend von der Sicht Hausers richtet Campos da Rocha sein Augen­merk auf die wichtigsten Momente der Entwicklung der Gattung der Tragödie in der deutschen Literaturgeschichte, um schlieβlich auf die Texte von Lessing und Schiller zu sprechen zu kommen. Mario González dagegen erörtert die Möglichkeit, die spanische Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts unter dem Blickwinkel von Hausers Studien über den Manierismus zu lesen. Für González bietet Hausers Manierismus­konzept die Gelegenheit, jene in den Werken von Cervantes, S. Juán de la Cruz, Góngora, Rojas u. a. enthaltenen Bezüge zu entdecken, die von den Handbüchern der spanischen Literatur­geschichte nicht behandelt werden. Indem er die Beziehungen dieser Werke zu Hausers Manierismuskonzept nach­zeichnet, zeigt González, wie die Arbeit dieses deutsch­sprachigen Denkers für die Rezep­tion und das Verständnis anderer Literaturen produk­tiv werden kann.

Die deutsche Bibliothek von João Guimarães Rosa von Daniel Bonomo und Das Tragische in "Matraga", mit Nietzsche gelesen von Paulo Henrique da Silva Gregório behandeln das Werk von João Guimarães Rosa. Bonomo erstellt ein genaues und voll­ständiges Verzeichnis der im Instituto de Estudos Brasileiros (Universidade de São Paulo) aufbewahrten deutschen Bücher des Autors und versucht, die markantesten Ten­den­zen in den Lektüren des brasilianischen Schriftstellers zu ermitteln. Er ergänzt damit vorangegangene Untersuchungen und bietet den folgenden Grundlagen und reichhaltige Informationen für weitere Studien zu Rosa. Indirekt belegt seine Arbeit, mit welchem Gewinn brasilianische Literaturwissenschaftler die Recherche in Archiven nutzen kön­nen. Paulo Henrique S. Gregório versucht eine Parallele zu ziehen zwischen Nietzsches Vorstellung von der Vereinigung von Dionysischem und Apollinischem in der Tragödie und dem Lebens­weg von Augusto Matraga, dem Protagonisten einer Erzählung von Guimarães Rosa. Nietzsches Tragödientheorie wird dabei als heuristisches Instrument zur Interpretation der Figur verwendet. Für den Autor ist die erste Lebenshälfte Matragas vom Dionysi­schen, die zweite vom Apollinischen gekennzeichnet, während die im Tod der Figur kulminierende dritte beide Elemente versöhnt.

In der Abteilung Sprache / Linguistik stellt der Artikel von Monica Savedra, Heloísa Liberto und Robson Carapeto-Conceição eine Studie vor, die ausgehend vom Beispiel des Osterfestes an zweisprachigen Schulen Fragen der Interkulturalität im Unterricht des Deutschen als Zweiter Fremdsprache (DaZ) erörtert. Im ersten Teil des Artikels bieten die Autoren ein aktuelles Bild des brasilianischen Deutschunter­richts, das sowohl den zu diesem Bereich Forschenden als auch einem allgemeinen Publikum zugute kommen kann; der Begriff der Zweispra­chig­keit wird in "bilinguis­mo" und "bilingualidade" differenziert und das Studium der Fremdsprache mit dem Wissen über die neue Kultur in Beziehung gesetzt. Gestützt u. a. auf die Arbeit von Götze, Mueller-Liu und Traoré vertreten die Autoren die Sichtweise, dass der Erwerb der Zweitsprache eng verbunden ist mit der Aneignung einer Kultur; in dieser Hinsicht wird die Interkulturalität unter drei Aspekten betrachtet: reproduktiv, bikultu­rell und hybrid.

Die Ausgabe wird beschlossen durch eine Rezension von Daniela M. Kahn zu der Übersetzung von E. T. A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster, die dem brasi­lia­nischen Leser jetzt von Maria Aparecida Barbosa unter dem Titel A janela da esquina de meu primo zugänglich gemacht wurde. Laut Kahn zeigt sich in diesem Text eine andere, entschieden moderne Seite von Hoffmann.

Wir hoffen, mit dieser und der kommenden Ausgabe von Pandaemonium Germanicum zu zeigen, dass von deutschsprachigen Theorien nicht nur fruchtbare Anstöβe ausgegangen sind und noch immer ausgehen, sondern dass sie noch immer ein groβes, nicht ausgeschöpftes Potenzial für die weitere Entfaltung der Sprach- und Lite­ra­tur­wissenschaften darstellen.

Juliana P. Perez

Dezember 2010

[Übers. Helmut Galle]

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    Zu Rosenfeld siehe Castro 2007; Martins Filho 1995; zu Carpeaux: Koshiyama 1992; Waizbort 1992; Ventura 2000; Oliveira 2001.
  • 2
    Ausgaben von Carpeaux und Rosenfeld wurden z. B. in den Jahren 2005 (Carpeaux), 2006 und 2007 veröffentlicht.
  • Publication Dates

    • Publication in this collection
      03 Aug 2011
    • Date of issue
      2010
    Universidade de São Paulo/Faculdade de Filosofia, Letras e Ciências Humanas/; Programa de Pós-Graduação em Língua e Literatura Alemã Av. Prof. Luciano Gualberto, 403, 05508-900 São Paulo/SP/ Brasil, Tel.: (55 11)3091-5028 - São Paulo - SP - Brazil
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