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Electric Scripture: A Comment on Mediality in Kleist’s Anecdote The Style of God

Elektrische Schrift: Eine Anmerkung zur Medialität in Kleists Anekdote Der Griffel Gottes

LITERATURA

Elektrische Schrift. Eine Anmerkung zur Medialität in Kleists Anekdote Der Griffel Gottes

Electric Scripture. A Comment on Mediality in Kleist’s Anecdote The Style of God

Ulrich Johannes BeilI

I PD Dr. Ulrich Johannes Beil war von 2000-2004 DAAD-Lektor an der Área de Alemão der USP und arbeitet derzeit als Senior Researcher am Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) Mediality der Universität Zürich. Email: ubeil@hotmail.com

Heinrich von Kleist veröffentlichte in den von ihm 1810/11 herausgegebenen Berliner Abendblättern eine Reihe von Anekdoten. Zu ihnen zählt auch die folgende, die höchstwahrscheinlich aus seiner eigenen Feder stammt und die den Titel Der Griffel Gottes trägt:

In Polen war eine Gräfin von P..., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen. (Kleist 2001: 263)

Die Geschichte von der polnischen Gräfin, die Kleist, Karl August Varnhagen zufolge, dem Fürsten Anton Heinrich von Radziwill verdankt, wurde von ihm in einigen Punkten abgeändert. Aus einer Dame mit lockerem Lebenswandel wurde eine, „die ein sehr bösartiges Leben führte". Aus einem von ihr selbst gestifteten Grabstein wurde ein von jenem Kloster errichteter, dem sie nach der Absolution ihr Vermögen vermachte. Und statt dem polnischen Wort potępiona („verdammt") findet sich die deutsche Formulierung „sie ist gerichtet". Der Text, der verschiedene Anspielungen enthält, u. a. auf Schiller – „Hingeschrieben / Mit dem Griffel des Blitzes” heißt es in dessen Hymne an den Unendlichen – und auf das Ende von Goethes Faust I – „Sie ist gerichtet!" sagt dort Mephistopheles –, lässt im Rahmen der Theodizeediskussion seit Rousseau und Voltaire auf ein sogenanntes ‚Gottesurteil’, also auf die in der Aufklärung beliebte physikotheologische Argumentation schließen. Diesem ‚Urteil’ kommt aber auch, als sekundäre Bearbeitung eines von Menschen verantworteten ‚Originals’, die Funktion einer ent-stellenden réécriture zu. Man kann an bekannte poetologische Verfahren wie das Anagramm oder den „Logogriph" denken, das von Kleist in der Novelle Der Findling so genannte ‚Worträtsel’. Auch im Findling hatte das Changieren zwischen den Namen „Nicolo" und „Colino" eine so zentrale wie fatale Rolle gespielt. Aus einer nicht näher bezeichneten testamentarischen Inschrift, in der der Gräfin „mit vielem Gepränge" für ihr Vermächtnis gedankt worden war, wird in der ‚Bearbeitung’ eine dem ursprünglichen Sinn Hohn sprechende Buchstabenfolge, die „zusammen gelesen" „sie ist gerichtet" lautet. Nicht ausdrücklich geklärt wird allerdings, ob das Zusammen-Lesen der Buchstaben eine lineare Lektüre meint, oder ob es sich vor allem um eine Aktivität des Lesers handelt, der die verstreuten Buchstaben des ‚Lückentexts’ zugunsten eines sich abzeichnenden Sinns erst selbst kombiniert.

Durch diese Unschärfe kommen medial-materiale Momente ins Spiel – hängt die Entzifferung der übrig gebliebenen Buchstaben doch stark von der Stofflichkeit des Erzes ab, von der Art, wie es unter Blitzeinwirkung schmilzt, den gegebenen Text in sein Gegenteil verwandelt. Schon in der Überschrift ist der Blitz nicht nur Ausdruck göttlicher Vorsehung, sondern auch „Griffel", Schreibinstrument. Dieses spielt auf die ‚graphische’ Assoziation in dem Wort „Gräfin" ebenso an wie – mit der Lautfolge f/i/l – auf den das Geschehen bestimmenden Blitz. Dem Topos vom Buch der Natur, von der „Lesbarkeit der Welt" (Blumenberg 1986) lässt der Griffel sich allerdings nur bedingt zuordnen. Denn er schreibt nicht selbst, sondern destruiert eine menschengemachte, vermeintlich fromme Schrift – und konstruiert im Zuge dieser Destruktion, die selbst das Material des Grabsteins in Mitleidenschaft zieht, einen neuen Text. Von daher hinkt auch der gelegentlich angestellte Vergleich mit der Menetekelschrift beim Gastmahl des Königs Belsazar (Dan 5, 5); denn diese hat keine irdische ‚Vorlage’. In der Anekdote hingegen wird das, was im Auftrag der Klosterleitung „mit vielem Gepränge" auf den „Leichenstein" gemeißelt wurde, um die Verstorbene ihrem jenseitigen Richter zu empfehlen, einer radikalen Revision ‚von oben’ unterzogen. Für die Ewigkeit gedacht, erweist sich diese „in Erz gegossene" Schrift als hinfällig und endlich. Das metaphysische ‚sie ist gerichtet’ (die Gräfin), zu dem der ursprüngliche, im Einzelnen offenbar nicht zitierenswerte Text entstellt wird, kann zudem selbstreflexiv auch auf das Medium Grabstein bezogen werden. ‚Sie ist gerichtet’ im Sinne von: sie (die Inschrift) ist zurecht gerückt, be-richtigt. Wer hier ‚schreibt’, bleibt allerdings unklar. Der Blitz wird, zumindest in der Erzählung selbst, nicht weiter theologisch expliziert oder personalisiert. Die Überschrift wirkt angesichts dessen wie ein nachträglicher metaphorischer Deutungsversuch, der innerhalb des Textes („Die Schriftgelehrten mögen ihn [den Vorfall] erklären") wieder zurück genommen wird. Es schreibt wie „es blitzt", könnte man, einen Aphorismus von Lichtenberg variierend, sagen. Damit erhält der Bereich des Medialen – Erz/Schrift bzw. Blitz/Schrift – ein besonderes Gewicht. Man gewinnt den Eindruck, als schriebe die Inschrift sich im Kontext eines besonderen meteorologischen Ereignisses ganz von selbst um und verschöbe ihren Sinn ins diametral Entgegengesetzte. Der sekundäre, revidierte Text, ein hybrides Produkt aus dem Medium der Dauer (Stein) und dem Medium der Zerstörung (Blitz), erweist sich so als der eigentliche, ursprüngliche, den der primäre immer schon in seinem Zeichenensemble verbarg.

Vor diesem Hintergrund lässt sich der Blitz auch säkular lesen: als Folge der elektrostatischen Aufladung einer Gewitterwolke, als Zufallsagent einer ‚elektrischen’ écriture automatique, die der Text als so provozierendes wie zerstörerisches Ereignis inszeniert. Ein Ereignis im Übrigen, das selbst wiederum nach medialen Bestätigungen verlangt: nach einem exegetischen Kommentar („die Schriftgelehrten mögen ihn erklären"), nach einer autoritativen Behauptung („der Leichenstein existiert noch") und nach mündlich zu verifizierender Augenzeugenschaft („es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen"). Der Begriff des Blitzes jedenfalls oszilliert – zwischen Ontologie und Epistemologie, Providenz und Zufall, Zerstörung und Konstitution, Bedeutsamkeit und Medialität. Er fungiert als Vermittler zwischen denkbar unterschiedlichen Ebenen und Kategorien. Nicht zuletzt auch zwischen einer zweifelhaft gewordenen Autorität, wie sie durch die katholische Buch- und Ablassreligion repräsentiert wird, und jenen neuen Medien des 19. Jahrhunderts, die wie Fotografie und Film das Gefüge der traditionellen Schriftkultur nachhaltig erschüttern.

Literaturhinweise:

Recebido em 13/09/2011

Aceito em 15/09/2011

  • Blumenberg, Hans. Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1986.
  • Brors, Claudia. Anspruch und Abbruch. Untersuchungen zu Heinrich von Kleists Ästhetik des Rätselhaften Würzburg 2002.
  • Dierig, Fabian. Zu Der Griffel Gottes" In: Brandenburger Kleist-Blätter 11 (1997), S. 10-28.
  • Groddeck, Wolfram. Grab und Griffel. Kleists semiologische Anekdote vom "Griffel Gottes" In: Die kleinen Formen der Moderne Hg. von Elmar Locher. Innsbruck-Wien- München 2001, S. 57-77.
  • Hofe, Gerhard vom, Das unerhörte Ereignis als Zeichen der Transzendenz. Zur poetischen Darstellung von religiöser Erfahrung in Heinrich von Kleists Anekdote 'Der Griffel Gottes' In: Klaas Huizing u.a. (Hg.), Kleine Transzendenzen. Festschrift für Hermann Timm zum 65. Geburtstag Münster-Hamburg-London 2003, S. 87-102.
  • Jacobs, Carol. The Style of Kleist In: Diacritics 9 (1979), S. 47-61.
  • Kleist, Heinrich von. Sämtliche Werke und Briefe : zweibändige Ausgabe in einem Band Hg. von Helmut Sembdner. München: DTV, 2001.
  • Theisen, Bianca. Gottes Griffel. Simulationen des Heiligen bei Heinrich von Kleist Stanford (Diss.) 1992.
  • Zeeb, Ekkehard. Die Unlesbarkeit der Welt und die Lesbarkeit der Texte. Ausschreitungen des Rahmens der Literatur in den Schriften Heinrich von Kleists Würzburg 1995.

Publication Dates

  • Publication in this collection
    16 Jan 2012
  • Date of issue
    Dec 2011
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